Atem und Bewegung

von Dr. med. A. Stampa

Fast alle Bemühungen, Atmungsvorgänge zu erziehen und zu bessern, verbinden Bewegungsabläufe der Atmung mit Körperbewegungen. In der Regel werden willkürliche Körperbewegungen herangezogen, seltener unwillkürliche (wie bei Schlaffhorst-Andersen). Daraus ergibt sich das Bestreben, zu einer Übereinstimmung von Atem- und Körperbewegung anzuleiten. Bei diesem Bemühen stellen sich um so leichter Erfolge ein, je freier

der Übende die Übereinstimmung von Atem- und Körperbewegung zustande kommen lassen kann. Für die eigene Form der persönlichen Ausführung sorgen nicht nur die Muskelkräfte der Skelettmuskeln und der Atemmuskeln, die Geschicklichkeit in ihrer Anwendung, die vielleicht durch Wiederholung geübt werden kann – das Verständnis für den Bewegungs-, oder Arbeitsvorgang, sondern auch die seelische Verfassung, Freude an der gestellten Aufgabe oder Widerstand dagegen, Eifer oder Übereifer oder Misstrauen – kurz, die persönliche, geistige Verfassung.
Schwieriger wird die Lösung der Aufgabe, wenn die persönliche Gestaltung der Übereinstimmung einem unpersönlichen Ablauf untergeordnet werden muss, wie bei einem technischen Vorgang, wo die Arbeitsbewegung einer Maschine angepasst werden soll, oder wie bei Massenbewegungen auf Kommando. In diesen Fällen wird die persönliche Lösungsmöglichkeit eingeengt. Hier müssen dann allgemeine Anleitungen gegeben werden, um ein Entgleisen in unzweckmäßige und krankmachende Fehlformen sowohl der Atmung wie auch der Bewegung zu verhindern. Bei solchem Bemühen werden fast ausnahmlos Anweisungen gegeben für ein bewusstes Steuern nicht nur der körperlichen Bewegung der Skelettmuskulatur sondern auch der Atemmuskulatur.
Dem willkürlichen Steuern der Atmung stellt sich womöglich ein ernstes Hindernis entgegen. Bewusst verändern lässt sich die Brustkorbatmung sehr viel leichter als die Zwerchfellatmung. Das kommt daher, dass die Brustkorbmuskeln als Skelettmuskeln durch Kraftleistungen außerhalb des Atmungsvorgangs von Kindheit an geübt und dem Willen gefügig sind; da alle Erziehung sich überwiegend an den Willen wendet, steht die Brustatmung meistens im Vordergrund oder sie tritt in den Vordergrund, sobald von der Atmung etwas verlangt wird. Wo Brustatmung vorherrscht, da ist Zwerchfellatmung stets benachteiligt, denn die Zwerchfellatmung braucht den Einatmungsantrieb des Blutes, und wenn die vorausgehende oder vorherrschende Brustatmung den Einatmungsantrieb aufhebt oder abschwächt, entsteht die allgemein anzutreffende Zwerchfellschwäche. Die volle Atmungskraft, wie sie der Sänger oder Schwerarbeiter brauchen, kann aber nur zur Verfügung stehen, wenn der Zwerchfellanteil ungeschmälert ist. Darum muss in der Regel bei jeder Atemschulung zuvorderst die Zwerchfellatmung gesichert werden.
Die Zwerchfellatmung verlangt zu ihrer Entfaltung ein völlig anderes Vorgehen als die Brustatmung. Die Brustatmung behindert die Zwerchfellatmung. Sie nimmt ihr den Wind aus den Segeln. Wenn das Zwerchfell zu seinem Recht kommen soll, müssen wir die Brustatmung einschränken. Dasw hat vor allem in der Weise zu geschehen, dass die Einatmung mit dem Brustkorb vermieden wird. Man muss also nach der Ausatmung abwarten, bis der Einatmungsantrieb das Zwerchfell zur Einatmung anspannt. Nach der Einatembewegung des Zwerchfells oder auch bei ihr darf sich die Brustkorbbewegung anschließen. Dann stört sie nicht mehr.
Die Zwerchfellbewegung muss also zunächst abgewartet werden, bis sie verfügt wird. Man muss sich ihr unterordnen. Sie geschieht nach dem persönlichen Gesetz. Sie hängt also nicht allein von der Stärke oder Schwäche der Muskelfasern ab, sondern auch oder noch viel mehr von der Stimmung der Person, etwa von ihrer Verdrießlichkeit oder von ihrer Einsatzbereitschaft. Umgekehrt formt die Zwerchfellspannung die Beschaffenheit der Stimme, der Stimmung, der körperlichen und seelischen Verfassung der Person. Es ist nicht von ungefähr, dass die Griechen das Zwerchfell als Sitz der Seele bezeichnet haben. Hier haben sie die Erziehung zu ihrer Kultur angesetzt, haben die Menschen durch Stimmschulung mit Rede und Gesang, durch Tanz und sportliche Wettkämpfe zur höchsten Kultur des Abendlandes erzogen. Das Kennzeichen der Zwerchfellschulung ist: Unterordnen unter ein höheres Gesetz; nicht Selbst-Machen, Selbst-Entscheiden, sondern: Fähig-Sein zur Unter¬werfung unter das Gesetz der persönlichen Anlage, unter das Gebot der Selbstverwirklichung im irdischen Dasein vom rhythmischen Wechsel der Gegensätze. Selten wird ein Mensch zur Erfüllung seines persönlichen Auftrags kommen, ohne zuvor mit seiner Atmung im Gleichgewicht gekommen zu sein. Erst wenn er die Unterwerfung verwirklicht hat, vermag er sein Selbst zu erkennen. Dazu gibt es eine überragende Hilfe: die Zwerchfellatmung, d.h. die ganze, rechte Atmung mit Einschluss der vollen Zwerchfellatmung oder einfach: Atmung auf Grund der Zwerchfellatmung.
Vor allem ergibt sich, dass Zwerchfellschulung nur sinnvoll ist, wenn sie nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten, sondern nach persönlichen Notwendigkeiten gepflegt wird. So wie der stimmliche Ausdruck jedes Menschen seine persönliche Eigenart nie verleugnen kann, so behält auch jedes Werk und auch jede Bewegung das Merkmal seiner  persönlichen Einmaligkeit, sofern er nicht von außen, durch Kommando oder durch Technik zum Teilstück einer Allgemeinheit erniedrigt wird.
Zwerchfellpflege kann weitgehend dem einzelnen überlassen bleiben, wenn er in kurzen, wenigen Anweisungen auf den rechten Weg gebracht ist.
Wer sich diesen geraden Weg glaubt (als Umweg) ersparen zu dürfen, wird sich unweigerlich ins Gestrüpp einer verwirrenden Vielfalt von Einzelanweisungen verirren, wo die Zwerchfellkräfte unvollkommen entwickelt werden, weil das Übergewicht der Brustkorbatmung belastend bleibt und die allgemeine Verkrampfungsbereitschaft von dort her aufrechterhalten oder gefördert wird. Wer hat es noch nicht versucht, einer anstrengenden körperlichen Leistungssteigerung  die Atmung im voraus anzupassen, etwa beim Radfahren oder beim Schnelllauf? Je eifriger man die Atmung zur Beschleunigung zwingt, um so rascher versagt sie – bis zu Erstickungserscheinungen. Erst durch völlige Ablenkung vom Atmungsvorgang stellt sich dann glücklicherweise wieder eine ausreichende Atmung „von selbst“ ein, d.h. der unbewusste Teil der Atmung, die ungesteuerte Zwerchfellatmung rettet die Lage.
Die Krampfneigung dehnt sich vom gewaltsam angespannten Brustkorb auf Hals- und Schlundmuskulatur aus – wie die verzerrten Gesichter mancher „Sieger“ erkennen lassen – und führen oft zu einer verhängnisvollen Verengung der Stimmritze.
Die „Übereinstimmung“ zwischen Körperbewegung und Atmung durch Einzelanweisung erzielen zu wollen, ist grundsätzlich ein unsicherer und dorniger Weg, umringt von Gefahren. Er ist nicht unmöglich. Er beschert Zeitvertreib und endlose Berufsausübung. Gelänge es aber, den einzelnen, wahrhaft Suchenden, zur Pflege seiner Zwerchfellkräfte anzuleiten, so würde der Glückliche in die Lage versetzt, unter Vertiefung seiner persönlichen Selbstfindung nicht nur jedem geistigen Leistungsanspruch gewachsen zu werden.
Die beim unmittelbaren Angehen verzwickten Aufgaben werden gleichsam „von selbst“ gelöst, wenn Krampf, Gleichgewichtsstörung, persönliche Unsicherheit durch zuversichtliche rhythmische Einordnung bei lernendem Bemühen um leibliche und geistige Erfüllung überwunden werden. Nur derjenige verlangt seine wahre Leistungsfähigkeit, der seine Mitte empfunden hat und von seiner Mitte aus sein persönliches Werk gestaltet. Die körperliche Mitte ist das Zwerchfell. Von jedem Grade der Ausbildung hängt es ab, wie unvollkommen oder wie vollkommen leibliche Bewegung oder geistiges Werk gestaltet werden.

(2/1963 Heft: Atem, Bewegung, Entspannung)

 

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