Der Atem: Tor zur Biologie

von David Servan-Schreiber
aus “Das Antikrebsbuch”(S. 249)

Photo: Henner Weinschenk, München

Im Yoga, in der Meditation, im Qigong und bei modernen westlichen Methoden wie der Herzkohärenz – immer ist der Atem das Tor zum Innenleben. Es geht damit los, dass wir uns bequem hinsetzen, mit geradem Rücken, in der Position, die der tibetische Meister Sogyal Rinpoche die “würdige” nennt. 
So kann der Luftstrom ganz frei durch die Nasenflügel in die Kehle, weiter in die Bronchien und bis tief in die Lungen fließen und dann den ganzen Weg wieder zurück. Zwei tiefe Atemzüge mit voller Aufmerksamkeit genügen, und wir spüren, dass sich etwas in uns entspannt. Eine Art Bejahen, eine Leichtigkeit, ein weiches Gefühl breitet sich, in der Brust und

in den Schultern aus. Im Lauf der Zeit lernen wir, den Atem durch die Aufmerksamkeit lenken zu lassen und die Aufmerksamkeit an den Atem zu heften. Der Geist wird wie ein Blatt auf dem Wasser, das steigt und herabsinkt mit den Wellen, von ihnen getragen wird. Die Aufmerksamkeit begleitet das Gefühl bei jeder Einatmung und lässt sich von dem langen Ausatem davontragen, wenn die Luft den Körper sanft,langsam, anmutig verlässt, bis zum Ende eines Weges, wenn nur noch ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Luftrest übrig ist. Dann kommteine Pause. Wir sinken in diese Pause hinein, immer tiefer. Oft fühlt man sich da am engsten mit dem eigenen Körper verbunden. Mit ein bisschen Übung spüren wir, wie das Herz schlägt und das Leben erhält wie schon seit so vielen Jahren. Und dann, am Ende der Pause, ohne dass wir die geringste Anstrengung unternehmen müssen – außer dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten -, entzündet sich von selbst ein kleiner Funke und löst einen neuen Atemzug aus. Es ist der Funke des Lebens, der immer in uns glimmt und den wir vielleicht zum ersten Mal entdecken.
Unweigerlich lässt sich unser Geist nach wenigen Minuten von dieser Aufgabe ablenken und zieht uns zur äußeren Welt hin: den Sorgen aus der Vergangenheit oder den Pflichten der Zukunft. Die ganze Kunst dieses „radikalen Akts der Liebe“ besteht darin, dass wir das tun, was wir für ein Kind tun würden, das unsere gesamte Aufmerksamkeit braucht: Wir erkennen die Wichtigkeit der anderen Gedanken an und versprechen ihnen wohlwollend unsere Aufmerksamkeit zum geeigneten Zeitpunkt, und dann kehren wir zu demjenigen zurück, der uns im Augenblick braucht: zu uns selbst.

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