Guten Abend, gute Nacht

von Dr. K.O. Kuppe

Manch einer wird sich noch aus seiner Kindheit eine Erinnerung bewahrt haben an die Melodie eines Wiegenliedes, das ihm seine Mutter zum Einschlafen vorgesungen hat. Viele werden allerdings Wiegenlieder nur noch im Musikunterricht der Schule kennen gelernt haben und diese vielleicht unter innerem Protest des jugendlichen Gemütes als veraltet und längst überholt mitgesungen haben.
Als Kinder und junge Menschen haben wir meist alle gut und fest geschlafen. Erst in späteren Lebensjahren spürt man, was Schlaflosigkeit bedeuten kann. Für den ganzen Tag ist es bedeutungsvoll, ob wir mit dem „richtigen Bein“ aufgestanden sind oder ob wir unausgeschlafen an unser Tagwerk gehen.

Eine bekannte pharmazeutische Firma hat vor einiger Zeit eine sehr hübsche Reklamesendung an Ärzte verteilt. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Wiegenliedern europäischer und asiatischer Völker. Die Musik dieser Schlaf-, und Wiegenlieder, so extrem und fremd sie uns auch manchmal anmuten mag, hat ein Gemeinsames, von Brasilien bis China und von Russland bis Skandinavien: einen wiegenden, einschmeichelnden Rhythmus, etwas Sanftes, Umhüllendes. Kinder, die in der Wiege liegen, kennen wir heute leider nur noch aus alten Erzählungen; und die Wiegenlieder sind bei uns zivilisierten Völkern – genauso wie die Wiege selbst – im Begriff, Museumsgut zu werden.
Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung und der Hygiene, alles ist praktisch, sauber, real, nützlich. Wer hätte denn auch noch die Zeit, Kinder zu wiegen oder Schlaflieder zu summen. Wir leben in einer Zeit der Hast und des Tempos, wo jede Minute kostbar erscheint. Unsere Jugend liebt heiße Rhythmen, Radio und Fernsehen schaffen eine Geräuschkulisse, die den so genannten Feierabend ausfüllt.
Es gibt alte Bilder berühmter Meister, da sitzen Menschen abends im Lehnstuhl und haben die Hände in den Schoß gelegt. Sie ruhen aus von des Tages Arbeit und ihre Gesichter sind friedlich und gelöst. Auch unsere Großeltern ruhten sich noch auf diese Weise aus. Sie lebten im Rhythmus des Tages und der Nacht. Wachskerze, Petroleumlampe und Gasbeleuchtung reichten noch nicht aus, um die Nacht zum Tag zu machen. Unsere Vorfahren wussten wahrscheinlich noch nicht, dass es Früh- und Spätschlaftypen gibt. Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen, Tiefschlafstörungen, sie kannten kaum Schlafmittel, denn sie schliefen in der Regel gut – es sei denn, eine schwere Krankheit oder Schmerzen hinderten sie daran.
Heute ist die Schlaflosigkeit zum Zeitproblem geworden. Nicht nur Erwachsene und Greise, sondern auch Jugendliche und Kinder schlafen nicht mehr. Es gibt Hunderte von Schlaf-, und Beruhigungsmitteln und in Europa und Amerika wohl Millionen von Schlaflosen.
Die Wissenschaft hat längst eingesehen, dass dieses Problem nicht mehr mit Medikamenten zu lösen ist, da es sich hierbei um eine Lebensfrage des modernen Menschen handelt. Der Verlust des Rhythmus ist das Danaer-Geschenk der Maschine, die es uns möglich macht, durch einen Schalterdruck die Nacht zum Tage zu erhellen. Durch die Technik ist der Mensch frei geworden, seinen Lebensrhythmus selbst zu gestalten, er ist aber auch in Gefahr, diesen zu verlieren. Unsere Jugend steht bereits in derselben Gefährdung. Schlaf ist ein Geschenk der Natur, aber man kann auch Geschenke vergessen.
Schlaf ist wohl das älteste Heilmittel, und der Tempelschlaf der alten Kulturvölker setzt sich durch alle Zeiten hindurch fort bis zur Heilschlafbehandlung, der modernen Medizin. Wer von uns hätte sich nach einer schweren Krankheit nicht schon mal gesund geschlafen?
Der Dichter Friedrich Schiller schreibt in seinen prosaischen Schriften: „Unter dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unseres Daseins so sehr verlangt; alle jene krampfigen Ideen und Empfindungen, alle jene überspannten Tätigkeiten, die uns den Tag durch gepeinigt haben, werden jetzt in der allgemeinen Erschlaffung des Sensoriums aufgelöst, die Harmonie der Seelenwirkungen wird wiederum hergestellt, und ruhiger grüßt der neuerwachte Mensch den kommenden Morgen. Der Schlaf versiegelt gleichsam das Auge des Kummers, nimmt dem Fürsten und Staatsmann die schwere Bürde der Regierung ab, gießt Lebenskraft in die Adern des Kranken und Ruhe in sein zerrissene Seele.“
Heute wird uns ein gesunder Schlaf nicht mehr ohne weiteres geschenkt, wir müssen ihn uns verdienen, wir müssen ihm etwas opfern, es sei denn, wir gingen den bequemen Weg, regelmäßig Schlaftabletten zu nehmen – ein Verfahren, das uns in seelische Abhängigkeit und zu gesundheitlichen Schädigungen führt.
Es soll hier nur stichwortweise auf die vielen naturgemäßen Möglichkeiten , den Schlaf zu fördern, hingewiesen werden. Es gibt viele Hilfsmittel einfacher Art, auf die schon Pfarrer Kneipp hingewiesen hat: Das Wassertreten, das Luftbad mit Trockenbürsten der Haut, das ansteigende Fußbad, kühle Waschungen des Unterleibs, den Wadenwickel und vieles andere mehr. Aber in diesem Beitrag sollen vor allem Hinweise gegeben werden, die in der allgemeinen Gesundheitsliteratur weniger berücksichtigt sind.
Wer gut und friedlich schlafen will, der sollte, so merkwürdig es klingen mag, bereits am Tage mit der Vorbereitung beginnen; er muss lernen, kleine schöpferische Pausen einzulegen. Er muss sich bemühen, einmal für Augenblicke, und seien es eine oder zwei Minuten, die Unrast abzulegen und sich von allem zu lösen, was ihn treibt und bewegt. Wer abgehetzt, strapaziert vom Programm des Fernsehens oder angeregt durch die Berichte der letzten Illustrierten sich ins Bett begibt, der sollte sich nicht wundern, wenn ihm vor Müdigkeit die Augen nicht zufallen  und er am nächsten Morgen unausgeschlafen erwacht. Es lohnt sich bestimmt, vor dem Zubettgehen für einige Minuten einen wirklichen Feierabend zu begehen, etwas Besinnliches zu lesen, gute Musik zu hören oder noch besser, selbst Musik zu spielen – und sei es ein Wiegenlied. Man könnte auch mit dem Ablegen der Kleider die Vorstellung pflegen, als lege man gleichzeitig damit die Sorgen und Probleme des Tages ab, Teil um Teil. Im Bett sollte man sich erst einmal richtig dehnen und rekeln, so wie es die Katzen tun, und versuchen, seine Glieder zu lösen und „abzulegen“, bis man sie schwer und warm empfindet. Auch ein Rückblick auf den vergangenen Tag, den man Bild für Bild noch einmal abrollen lässt, oder die Beschäftigung mit einem Märchen vermag eine Stimmung hervorzurufen, die dem Schlaf entgegenkommt. Wahrscheinlich müssen wir erst lernen, uns dieser Stimmung hinzugeben, wie sie Christian Morgenstern in den Versen so schön charkakterisiert:

„Auf braunen Sammetschuhen geht
der Abend durch das milde Land,
sein weiter Mantel wallt und weht
und Schlummer fällt von seiner Hand“

Es würde kaum einem von uns einfallen, in Straßenkleidern zu einer Abendgesellschaft zu gehen, aber fast alle von uns versuchen, beladen mit den Alltagssorgen, mit der Hast und Unruhe des Tages, in das Reich des Schlafes einzutreten und wundern sich dann, wenn ihnen der Eintritt verwehrt wird. Um schlafen zu können, müssen wir versuchen, unser Empfinden möglichst bildhaft zur Ruhe kommen zu erziehen und auch bei Kindern kann man damit beginnen.
Ein amerikanischer Psychologe hat einmal geäußert: „Das sicherste Mittel um schlafen zu können ist der fest Vorsatz, um keinen Preis einschlafen zu wollen.“ Damit ist etwas sehr Weises angesprochen, nämlich, dass jede Form von Erwartung unseren Organismus in Spannung versetzt und damit der Ruhe entgegen arbeitet. Versuchen Sie es doch einmal anders. Stellen Sie sich vor den Spiegel, lächeln sich selbst einmal an und achten darauf, dass Sorgenfalten und verspannte Kinnpartie sich lösen. Dann versuchen Sie herzhaft zu gähnen. Gähnen ist ein Tiefatemreflex bei Mensch und Tier, der nicht nur erhöhtes Sauerstoffbedürfnis sättigt, sonder gleichzeitig auch Spannungen und Verkrampfungen im Raum des Kehlkopfes in der Zwerchfellregion und im Sonnengeflecht löst. Dann könnten Sie sich im Bett zurechtrekeln nach dem Motto: Wie man sich bettet, so liegt man. Ein oft erprobtes Mittel das den Schlaf fördert ist das Nachspielen einer Schlafatmung. Der Rhythmus des gesunden Schläfers ist gekennzeichnet durch ein gleichmäßiges ein – aus – Pause, wobei der Schwerpunkt in der Ausatmung und in dem Verweilen der Pause liegt. Diese Art zu atmen ist fast ein melodisches, ein rhythmisches Problem und man kann vollziehen nach dem Grundsatz: Es ist unmöglich, aufgeregt oder hellwach zu sein, wenn es mir gelingt, einen Atemrhythmus festzuhalten, der völlig anders geartet ist. Wer hineinfällt in eine völlig spannungslose Phase mit einer längeren Atempause. Wichtig ist nur, dass diese Form des Atmens wirklich gespielt wird, dass man sich dabei nicht anstrengt, etwas erreichen möchte, sondern sich in dieser Atempause hineinfallen lässt. Das Loslassen, das sich Abgeben können, das sich Fallenlassen, das ist ja etwas, was die zivilisierte Menschheit durch den Stress des Tages immer mehr verlernt hat. So wurde eine Atemform zu einem Spiel mit einem Rhythmus der Ruhe und des Lassen könenn.
Guten Abend, gute Nacht

Aus Atem und Mensch 3/1975

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