von Annette Jantzen
Durchatmen hat biblisch gesprochen nicht nur mit Entspannung zu tun,
sondern ist auch eine Fährte zu Gottes Schöpfungskraft.
Ein lebendiges Wesen zu sein, bedeutet in der Hebräischen Bibel, ein atmendes Wesen zu sein – im Schöpfungsmythos ist es der Lebensatem Gottes, der den Menschen lebendig macht. Der biblische Wortgebrauch für „lebendiges Wesen“ ist das Wort, was zumeist mit „Seele“ übersetzt wird, sich dabei aber von dem unterscheidet, was wir in der abendländischen Tradition mit diesem Begriff zu verbinden gewohnt sind.
Denn in der Hebräischen Bibel ist das Sprechen vom Menschen tief von der Verbindung von Atem und Ichsein geprägt. Das Wort, das wir gewöhnlich mit „Seele“ übersetzen, Näfäsch, ist wie so vieles andere auch ein Körperbild, und es bezeichnet zuerst die Kehle. An dieser Stelle sind wir am verletzlichsten: Hier schnürt uns die (Todes-)Angst den Hals zu, verschlagen uns Schmerz oder Trauer den Atem; aber hier atmen wir auch erleichtert auf und tief durch, hier artikuliert sich unser Lebenshunger im lauten Atmen der sexuellen Erregung. Hier sammelt sich unser Menschsein. Im biblischen Sprachgebrauch liegt da der Anhaltspunkt für unser Sein als lebendige Wesen.
Auch wenn näfäsch mit „Seele“ übersetzt wird, ist darum nicht die Individualität im Sinne der Einzelseele der griechischen Philosophie gemeint. Vielmehr ist das, was uns zu je einmaligen Menschen macht, zugleich das, was uns mit allen anderen lebenden Wesen verbindet, und untrennbar mit dem Atem verknüpft ist. Diese Lebendigkeit kommt in biblischer Konzeption nicht aus uns selbst, sondern sie ist verdankt, sie gibt uns Herkunft in der ungeheuren Lebendigkeit Gottes, deren Atem allen Lebensatem trägt. Darum führt auch der Psalter, das Buch, mit dem wir das Leben beten können, hin zum universalen Gotteslob: Alles, was atmet, lobsinge JHWH!
Wie innig diese biblische Verbindung zwischen lebendigen Wesen und Gott ist, erschließt sich auch, wenn man sich das Wort für Gottes Schöpfungskraft näher anschaut: Ruach, Geistkraft. Dieses lautmalerische Wort für eine Luftbewegung, die man hören kann, kann auch im menschlichen Atem zu finden sein, und dann steht es für den unartikulierten, lauten Atmen. Der Atem der Erregung, der Geburt und des Sterbens ist also nicht nur der unmittelbare, vorsprachliche Ausdruck unseres Menschseins, wenn wir in Situationen sind, wo wir uns überlassen müssen. Er ist zugleich der Ort, wo Gottes Ruach am Werk ist und wo wir unmittelbar auf Gottes Schöpfungskraft verwiesen sind, eben weil das Situationen sind, in denen wir uns nicht selbst haben und uns nicht selbst verkörpern können, sondern darauf angewiesen sind, bewahrt zu werden.
Näfäsch kann daher zwar mit „Seele“ übersetzt werden, aber diese Übertragung bleibt sehr unvollständig, wenn man nicht auch Lebenshunger, Vitalität und Begehren ebenso mithört wie Verletzlichkeit und Angewiesensein. Von hierher betrachtet sagt das Wort über unser Menschsein: Unser Leben ist wie der Atem, und was uns trägt, was uns lebendig macht, ist das, was wir nicht festhalten können. Wenn wir nach Atem ringen, kämpfen wir um unser Leben und darum, uns und unser Leben wieder selbst in der Hand zu haben – und die Erleichterung, wenn wir wieder atmen können, vermag unseren ganzen Körper zu fluten.
Wenn man der biblischen Verbindung folgt, vom eigenen Atem auszugehen und darin die Verbindung mit Gottes Schöpfungskraft zu finden, dann holt man das Sprechen über Gott aus dem Bereich der Spekulation heraus, hinein in den Bereich der gedeuteten Erfahrung. In dieser Perspektive spricht die Psalmbeterin in Ps 63 von der Erfahrung der Gottesnähe: Als verletzliches Leben, mit meinem Atemholen hänge ich an dir, möge deine rechte Hand mich halten. (Ps 63,9)
Auch von hier aus gesehen können wir uns Gott über unseren Atem nähern: im Getragensein vom fließenden Atem, im verzweifelten Schmerz, im Erleben von Fülle und Weite. Und zum Glück gibt es keinen Preis für „richtig“ atmen, nur möglicherweise Übung darin, dem eigenen Atem zu folgen, und ist die Erfahrung des Atmens oft so unspektakulär wie wohltuend, manchmal hart errungen, meist unmerklich gegeben. Bewusst wahrgenommen, mag es geschehen, dass sich dem Atem zu überlassen die Angst und das Gefühl der Unverbundenheit zu lindern vermag, zugunsten einer Erfahrung von Verbundenheit, die bedingungslos und nur bruchstückhaft intellektuell einholbar ist, wie ein Traumbild, das sich nach dem Aufwachen der Logik des Tages entzieht.
Während der Geburt ist es hilfreicher, der Gebärenden vorzuatmen, als ihr zu erklären, was sie tun soll. Und wenn Neugeborene mit dem Atemholen Schwierigkeiten haben und nach der Geburt Atemunterstützung brauchen, raten Hebammen gewöhnlich, das Kind in der Nähe der Eltern schlafen zu lassen, damit deren Atemgeräusch seinen Organismus zum Atmen stimuliert. Auch das Lebendiges-Wesen-vor-Gott-Sein kann man anderen Menschen nicht beibringen, es erwächst nur bedingt aus etwas, das man lernen kann. Aber andere können uns teilhaben lassen an dem, was ihrem Leben Sicherheit und Getragensein gibt. Oft genug ist Atmen genug.
Annette Jantzen, geb. 1978, Dr. theol., studierte Katholische Theologie in Bonn, Jerusalem, Tübingen und Strasbourg und schrieb ihre Promotionsschrift über Priester im Ersten Weltkrieg. Sie betreibt den Blog www.gotteswort-weiblich.de und lebt mit ihrer Familie in Aachen.
Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2025, Heft 31, S. 7
Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Herder Verlags und der Autorin.