Vegetative Fehlfunktion und Atmung

von Dr. med. Fritz Bretschneider

Unter vegetative Funktionen verstehen wir alle die Tätigkeiten menschlicher Organe, welche weitgehend unabhängig von Bewusstsein, Gefühl und Willen des einzelnen, also autonom, ohne jedwede äußere Einflussnahme, ablaufen können. Meist entgehen sie völlig unserer Aufmerksamkeit und werden erst dann sinnlich wahrgenommen,  wenn Störungseinflüsse den regelrechten Ablauf der spezifischen Tätigkeiten beeinträchtigen. Beispielhaft seien genannt: Atmungsabläufe, Herzaktionen und die Magen-Darm-Tätigkeit.
Als Vermittler der entsprechenden Impulse gilt das vegetative Nervensystem. Es ist allgemein bekannt,

dass wir hinsichtlich der nervösen Versorgung in der Physiologie menschlicher Organsysteme unterscheiden zwischen animalischen oder somatischen Nervensystem und vegetativem oder visceralem System.
Zum animalischen (somatischen) System rechnen wir motorische und sensible Nerven im Bereich der Sinnesorgane einschließlich ihrer zentralen Anteile, der Haut, der Muskulatur, der Knochen und Gelenke. Dieses Nervensystem vermittelt Funktionsabläufe, die unserem Bewusstsein, Gefühl und Willen unterliegen, von dort aus kontrolliert und in Gang gesetzt werden. Sowohl normale wie auch krankhaft veränderte Verhaltensweisen sind dementsprechend unmittelbar zu erkennen.

Dem vegetativen (visceralen) Nervensystem gehören Nervenbahnen, Ganglien und Zentren an, welche die glatte Muskulatur der inneren Organe (Viscera) des Herzens und der Drüsen nervös versorgen. Ihre Tätigkeit entzieht sich gewöhnlich sowohl unserem Bewusstsein wie unserem Willen. Sie läuft unbewusst, unwillkürlich oder autonom ab. Wir sprechen deshalb in dieser Hinsicht auch vom autonomen Nervensystem. Infolge dieser Gegebenheiten ist es offenbar recht schwer, hier gesunde sowie krankhafte Funktionsabläufe frühzeitig einwandfrei zu erfassen. Im Gegensatz zu somatischen Nerven besitzen die Bahnen des autonomen Systems außerhalb des zentralen Nervensystems zwischengeschaltete Ganglienknoten. Durch solche Synapsen werden präganglionäre Fasern mit postganglionären verbunden. Der Anteil Nervenfaser, der die Impulse vom Zentralnervensystem zu peripheren Ganglien leitet, wird präganglionäres Neuron genannt. Das postganglionäre Neuron sorgt dann für die Weiterleitung der Nervenerregung vom Ganglion zum endgültigen Erfolgsorgan. Präganglionäre Fasern können durch mehrere Ganglionknoten ziehen, bilden jedoch nur einmal eine regelrechte synaptische Verbindung.
Wir wissen, dass der Aufbau des vegetativen Nervensystems durch zwei gegensätzlich funktionierende Anteile charakterisiert ist, die sich vor allem in Förderung bzw. Hemmung einzelner Organfunktionen bemerkbar machen und uns unter den Bezeichnungen Sympathikus und Parasympathikus bekannt sind. Wenn es auch nicht immer möglich ist, einen deutlichen funktionellen Gegensatz herauszustellen, so erscheint die Zweiteilung doch zweckmäßig im Hinblick auf die Erfassung differenter Reizeinflüsse. Die sympathischen Ganglienzellen liegen gewöhnlich im Grenzstrang der Wirbelsäule an und besitzen dadurch kurze präganglionäre und langen postganglionäre Nervenfasern, die parasympathischen Ganglien verhalten sich umgekehrt. Sie imponieren durch längere präganglionäre Zuleitungen und sitzen mithin nahe bei ihren zugehörigen Erfolgsorganen. Die Abzweigstellen des Sympathikus liegen teilweise im Hals-Brust-Lendenbereich, wogegen der Parasympathikus mehr zentralwärts wie auch weiter peripher entspringt.
Während der Sympathikus leistungssteigernde Impulse leitet, die u.a. zu vermehrten Sauerstoffumsatz, zu erhöhter Atmungs-Kreislauftätigkeit, Erweiterung der Bronchien und Entleerung der Blutdepos führen, fördert der Parasympathikus die Magen-Darm-Tätigkeit, beeinflusst er Atmung, Kreislauf und Grundumsatz hemmend. Je nach Ausgangslage und Ansprechbarkeit der einzelnen Organe können Reizungen der entgegengesetzt wirkenden Nerven bisweilen gleichlaufende Effekte hervorbringen.
Wenn auch die Stärke der eingestrahlten Reize entscheidend sein wird für das Ausmaß der Reaktionen in den Körperzellen, so haben wir daneben in der Empfindlichkeit der zellulären Elemente gegenüber den zugeleiteten Impulsen sicher auch einen wesentlichen Faktor zu sehen. Der eigene Erregungszustand der Zellen, welcher sich in elektrischer Ansprechbarkeit manifestiert und unabhängig  ist von übermittelten nervösen Reizen, steht unter dem Einfluss des jeweiligen Zellmilieus und der daraus entspringenden Reaktionen im Zellinneren. Von Bedeutung sind hierbei hormonelle Reize, Mineralienkonzentration in den Zellräumen und Schwankung der elektrischen Zellaufladung. Durch Veränderungen innerhalb dieser Größen entstehen die Unterschiede in der Ansprechbarkeit auf zugeleitete Impulse. Zellen mit hohem Eigentonus werden infolge ihrer stärkeren Empfindlichkeit schneller und intensiver reagieren als Zellgruppen mit normaler oder unterschwelliger Erregtheit. Das trifft für alle Körperregionen zu. Nehmen wir z.B. eine hohen zentralen und peripheren Eigentonus in den Zellen an, dann wird ein Reiz aus der Körperperipherie das Steuerungszentrum im Zentralnervensystem übermäßig stark erregen. Die Impulse, die von hier an die zugehörigen Erfolgsorgane weitergeleitet werden, haben verständlicherweise eine entsprechend hohe Intensität und verleiten das überempfindliche Erfolgsorgan wiederum zu überschießenden Reaktionen. So entsteht eine Kette von Übererregungen.
Nun ist die Atmung durch den Einfluss, welchen sie auf den Sauerstoff-Kohlensäure-Umsatz und damit auf die Stabilität des Ionengleichgewichts, sowie die Blut-Gewebs-Transmineralisation durch Ausbalancierung von Oxydations- und Reduktionsvorgängen ausübt, maßgeblich an der Entstehung des jeweiligen Empfindlichkeitsgrades der Zellen und damit auf den vegetativen Gesamtzelltonus, während Atmungsfehlfunktionen Abweichungen vom zellulären Normaltonus erzeugen müssen.
Damit wird einerseits die fundamentale Wichtigkeit der normal ablaufenden Atmungsfunktionen klar, zum anderen aber auch bewusst, dass Atmungsfehler den Organismus sowohl in seiner Gesamtheit wie in seinen Einzelteilen negativ beeinflussen müssen.
Allerseits bekannt ist die starke Zunahme vegetativer Funktionsstörungen, die sich vorwiegend im Atmungs-Kreislauf- oder Verdauungssystem als jeweils besonders beanspruchtem Funktionskreis manifestieren. Wenn auch alle Organe viele Erregungssteigerungen verkraften, ohne gleich krankhaft zu reagieren, so lösen Impulsvermehrungen doch Schwankungen in den Organfunktionen aus, die gewiss lange Zeit so gering sein können, dass sie dem Betroffenen gar nicht bewusst werden. Erst nach Überschreiten des individuellen Schwellenwertes offenbaren sich die Übererregungen dann als entsprechende Organsensationen.
Damit erlangt die Frage nach Kriterien zur Objektivierung der jeweils bestehenden vegetativen Tonuslage weittragende Bedeutung für krankheitsvorbeugende Bestrebungen.
Nun spiegeln sich in den Atmungsbewegungen alle Feinheiten der gesamten vegetativen Tonuslage eines Menschen wider. Ja, die Größe der Abweichungen vom normalen Atemgeschehen vermag sogar konkrete Anhaltspunkte zu liefern für den Grad der Übererregtheitsunordnung. So lässt sich also sagen, dass Gesunde und Kranke mit anatomisch fixierten Organdefekten in ihrer Atmung normale Abläufe erkennen lassen; Menschen jedoch, deren Störungen auf funktioneller Übererregtheit beruhen, bringen den vegetativen Schockfragmenten entsprechende Abweichungen vom normalen Atmungsmechanismus hervor. Pathologische Strukturveränderungen im Bereich der Atmungsorgane müssen natürlich berücksichtigt werden. Erfreulicherweise sind die Atmungsbewegungen unserer direkten Beobachtung gut zugänglich. Sie lassen sich sowohl durch einfache Betrachtung mit dem bloßen Auge als auch durch elektrographische Registrierung, sowie durch röntgenologische Darstellung einwandfrei erfassen und mithin als regelrechte Indikatoren der Gesamttonuslage herausstellen.
Beim ruhenden Menschen zeigen sich Abweichungen von normalen Atmungsabläufen zunächst in einer Veränderung der Rhythmik. Statt des normalen dreiphasigen Atemvorganges mit Einatmung – Ausatmung – Atempause erkennen wir nur noch die beiden sich abwechselnden Phasen Einatmung – Ausatmung. Die Atempause nach der Ausatmung, dieses wichtige Ruhe- und Erholungsmoment, ist ausgefallen. Sehr bald entstehen auch Abweichungen innerhalb der beiden verbleibenden Atemphasen. Die Einatmung beginnt zunächst mit einer Bewegung im Bereich des unteren Brustkorbes und des Zwerchfelles, springt dann aber entgegen der Norm auf die oberen Brustkorbpartien über. Die Ausatmung besteht in einer rückläufigen Bewegung des fehlerhaften Geschehens. Weiterhin einsetzende Impulsüberhöhungen verlegen endlich die ganze Ein- und Ausatemtätigkeit in den Bereich der oberen Brustkorbregionen. An den auf- und abwärts gerichteten Schlüsselbeinbewegungen werden diese  Fehlabläufe besonders deutlich. Physiologische horizontal orientierte Dehn- und Spreizbewegungen im Brustkorbbereich mit spezieller Bevorzugung der unteren Partien sind längst nicht mehr auszumachen.
Wenn wir gesunde Menschen mit normal ablaufenden Atembewegungen beobachten, dann können wir bei ihnen eine imponierende körperliche – geistig-seelische Ausgeglichenheit feststellen, die sich in geistig-seelischer Haltung, in körperlichem Gebaren, überhaupt in allen Organfunktionen offenbart und sowohl im Stadium der Ruhe wie auch während einer Beschäftigung deutlich zum Ausdruck kommt. Jede Tätigkeit wird mit dem ihr adäquaten Ausmaß an Spannung erledigt, überschießende Reaktionen unterbleiben. Man kann treffend sagen, dass ein Maximum an Leistung mit einem Minimum an Energieaufwand vollbracht wird. Menschen, die ihre Körperkräfte derart ökonomisch einsetzen, strapazieren verständlicherweise ihren Organismus weit weniger als diejenigen, welche infolge innerer Unruhe und Unsicherheit in jede Tätigkeit ein Höchstmaß an Anstrengung hineinlegen.
In erster Linie produzieren heutzutage noch viele Jugendliche physiologisch einwandfreie Atmungsabläufe und lassen dadurch ihre vegetative Ausgeglichenheit zutage treten. Diese jungen Menschen sind dann bisher noch nicht durch Umwelteinflüsse ihrer angeborenen Natürlichkeit gestört worden. Sei leben naturhaft beschwingt.
Sehen wir uns nun rüstige alte Menschen an, – etwas solche, die ihr 80.Lebensjahr bereits überschritten haben – dann können wir auch bei ihnen anhand der physiologischen Atmungsabläufe feststellen, dass ihre vegetative Tonuslage ausgeglichen geblieben ist. Aus einer geruhsamen Zeit heraus haben sie unbewusst ihr psychosomatisches Gleichgewicht erhalten und sind dabei steinalt geworden. Ich habe zahlreiche alte Menschen speziell im Hinblick auf Atmungsabläufe und vegetativen Tonus untersucht und konnte elektrographisch, röntgenologisch sowie spirographisch nachweisen, dass trotz alterspezifischer Abnutzungserscheinungen ihre Atmungsabläufe immer noch im Bereich der physiologischen Norm lagen.
Demgegenüber sind durch Kontrolle der Atmungsabläufe bei 60 – 70% aller Erwachsenen Veränderungen der vegetativen Organfunktionen auszumachen. Diese Tatsachen sollten wenigstens Anlass zu vorbeugenden Überlegungen geben. Wenn wir dabei von der Tatsache ausgehen, dass alle funktionellen Entgleisungen zunächst noch rückgängig zu machen sind, sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr stabilisieren und letztlich in anatomisch fixierte Strukturdefekte des Organgefüges einmünden, dann erlagen frühe Erkennung bzw. Verhinderung der Funktionsentgleisungen grundsätzliche prophylaktische Bedeutung. Idealerweise würden wir Funktionsabweichungen überhaupt unterbinden, jedoch steht solchem Vorhaben die Tatsache entgegen, dass wir uns üblicherweise der krankmachenden Vorgänge erst dann bewusst werden, wenn sie in Form von Organfehlleitung fassbare Gestalt annehmen. Darüber hinaus nimmt meistens doch erst der kranke Mensch zu prophylaktischen oder therapeutischen Maßnahmen eine positive Stellung ein.
Die eigentlichen Schadensursachen lassen sich im Rahmen einer allgemein möglichen Praxis gelegentlich kaum erfassen und noch weniger leicht beheben. Da wir oft höchst unvollständig an das Ursachenspektrum herankommen, bemühen wir uns um so intensiver um die Erfassung und Behebung des Wirkspektrums, wodurch wir hoffen können, das Erscheinungsspektrum auszulöschen.
Zunächst wird die Spannungsführung des Patienten, die in Haltung und Bewegung ihren sichtbaren Ausdruck findet, von Überhöhungen befreit und auf das normale Maß reduziert. Durch Demonstration sind die Unterschiede zwischen Norm und Übermaß augenfällig zu machen. Die Verwirklichung regulärer Spannungsimpulse ist einem intensiv Übenden alsdann leicht möglich. Einer äußerlich sichtbaren Spannungsreduzierung folgt von selbst geistig-seelische Entspannung. Angstkomplexe verschwinden sogleich. Anschließend setzt die Normalisierung der Atemtätigkeit ein, die übungsmäßig so lange durchgeführt werden muss, bis aus bewussten Übungen wieder normal ablaufende Reflexvorgänge geworden sind. Wenn gymnastische oder sportliche Betätigungen in die Bemühungen eingebaut werden, dann ist unbedingt darauf zu achten, dass alles Üben in spannungsfreier Körperhaltung, aus lockeren Gelenken heraus und unter Beachtung physiologischer Atemtätigkeit durchgeführt wird, sonst dürfte der zugefügte Schaden jeden Nutzen übertreffen.
Nach intensiver Rückerarbeitung der normalen Atemweise bleibt diese fortdauernd bestehen, auch wenn der Organismus mit schädigenden Ursächlichkeiten in Berührung kommt. Zudem ist die Stabilisierung der Atmung von einer Reharmonisierung der vegetativen Organfunktionen begleitet. Dadurch nimmt die Empfindlichkeit gegen störende Umweltreize ab. Die Harmonie im vegetativen Gefüge ist wiederhergestellt.
Somit stellt sich heraus, dass ein regelrechter Ablauf der Atembewegungen als unbedingte Voraussetzung für normales Funktionieren aller lebenswichtigen Körperaktionen zu gelten hat. Wenn auch nicht behauptet werden soll, dass atemfördernde Maßnahmen die einzigen Möglichkeiten zur Verhütung vegetativer Fehlfunktionen darstellen, so muss aber immer wieder mit Nachdruck auf ihre diesbezügliche Wichtigkeit hingewiesen werden. Richtige Würdigung dieser grundlegenden Tatsachen bietet besten Schutz gegen vorzeitigen körperlich-geistig-seelischen Verschleiß.

Aus „Atem-Massage-Entspannung“  2/1963 (S. 7 – 12)

Foto: Henner Weinschenk, München

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