Verantwortung in der Therapie

von Prof. Dr. med. Peter Petersen
Vortrag in Lettland im Juli 2009

Ein einziges Wort

 Ein einziges Wort
kann wie fruchtbarer Regen niederfließen
auf die welkende Seele,
ein mitfühlendes Wort.

 Ein einziges Wort
kann wie ein Regenbogen sich spannen über den Weg
und leuchten über dem Staub,
ein einziges, erfreuendes Wort.

 Ein einziges Wort
vom höchsten Bergesgipfel her
kann niedersteigen zu der Seele,
ein erlösendes Wort.

 Ein einziges Wort
ist wie eine Treppe mit goldenem Halt
für unsichere Steiger,
ein ermutigendes Wort.

 Ein einziges Wort
kann dem Tage den Feierabend bringen,
kann jenen aufrichten, der fällt,
ein menschliches Wort.

1925 Aspazija (Elza Rozenberga) 1865-1943
lettische Dichterin
(aus. Riga udeni – Riga im Wasser
Lettische Lyrik, Tapalis 2004)

Mit diesem Gedicht der lettischen Lyrikerin Aspazija (1865 bis 1943) beginne ich. Ihre Worte berühren wesentliche Elemente von Verantwortung. Ver-Antwortung lebt von der Antwort, die ich meinem Partner gebe. Antwort wird getragen vom Wort. Über Wort und Antwort spreche ich später nochmals genauer.
Zunächst einige

Vorbemerkungen.
Ich werde heute ausschließlich über Verantwortung in der Therapie sprechen – nicht über Verantwortung in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kunst. Therapie ist: Begleiten, Dienen, Fördern, Helfen meines Patienten, meines Schülers, jedenfalls des mir anvertrauten hilfsbedürftigen Menschen. Therapie heißt also nicht: Heilen. Heilen ist eine andere Sphäre als Begleiten. Beim Heilen kommen höhere Mächte ins Spiel, ebenso handgreifliche Manipulationen und Eingriffe ins Leben wie beim Chirurgen. Der Therapeut als Begleiter, Diener, Helfer und Förderer jedoch enthält sich im Allgemeinen der Manipulation – nur im Notfall muss er wissen, welcher Eingriff richtig ist.
Verantwortung kann nur in Freiheit gedeihen. Freiheit ist Handeln aus Einsicht in die jetzt und hier waltende Notwendigkeit. Also: Freiheit ist nicht zu verwechseln mit Willkür, mit emotionalem Ausagieren (acting out). Verantwortung braucht die Luft der Freiheit – denn Verantwortung lebt aus der freien Entscheidung der Individualität. Dagegen wird echte Verantwortung durch Zwang, durch bürokratische Vorschriften, durch starre Regeln erstickt. Verantwortung braucht den freien Raum.
Ich werde Ihnen ein Beispiel geben, wie ich Verantwortung als Therapeut wahrnahm und welche Wirkung aus meinem Handeln entsprang.

Bis 1998 war ich 22 Jahre lang als Psychotherapeut in der Frauenklinik der Medizinischen Hochschule Hannover tätig. Damals wurde ich eines Tages plötzlich zu einer Patientin in den Kreissaal (Gebärzimmer) gerufen, es war ein Notfall. Ich nenne die Patientin Maja. Ihr bürgerlicher Name ist anders. Die Entbindung ihres 5. Kindes blockierte seit zwei Tagen. Ein Kaiserschnitt stand bevor. Diese Operation lehnte die Patientin ab, aus Gründen eines zuvor geschehenen Kaiserschnittes, den sie als seelische Verletzung empfand. Das war ein Dilemma zwischen Ihren Ängsten und den Ängsten der Ärzte, das Kind könne Schaden nehmen, zumal angesichts ihrer chronischen Stoffwechselkrankheit.
Die lebhafte, Energie ausstrahlende junge Frau von etwa 30 Jahren mit vier eigenen Kindern war mir bekannt von einer früheren psychotherapeutischen Konsultation. Sie arbeitete in einem therapeutischen Beruf. Damals hatte ich sie und meinen gynäkologischen Kollegen zu beraten vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Sie litt seit Jahren unter einer erheblichen körperlichen Krankheit. Deshalb hatte der Geburtshelfer nach der Kaiserschnitt-Entbindung kurzweg eine Sterilisation durchgeführt, geleitet von seiner medizinischen Vernunft, diese Frau habe genug Kinder geboren. Offensichtlich hatte er aber seinen Eingriff nicht ausreichend mit der Patientin zusammen abgestimmt – jedenfalls fühlte sie sich überrumpelt. Dieser Eingriff war in ihren Augen eine Manipulation, das heißt, ungerechtfertigtes ärztliches Handeln.
Ich hatte sie und meinen gynäkologischen Operateur damals zu beraten, ob und inwiefern eine Refertilisierung, eine Wiederherstellung der Fruchtbarkeit sinnvoll sei. Denn sie wünschte sich dringend ein weiteres Kind. Nach der Beratung mit mir gab der mikrochirurgisch arbeitende Kollege ihrem Wunsch nach, diese Operation dauert 3 bis 6 Stunden lang – es ist chirurgische Feinstarbeit – während die Sterilisation in etwa 20 Minuten getan ist. Diese refertilisierende Operation war erfolgreich.
Nun lag diese Patientin in einem mit hellen, kalt wirkenden Kacheln ausstaffiertem Geburtszimmer. Sie erkannte mich schneller als ich sie. Ganz rasch war da ein warmer Kontakt zwischen uns vorhanden. In der nächsten halben Stunde unterhielten wir uns ein wenig über den drohenden Kaiserschnitt. Natürlich war es mir ein leichtes, ihr mein Verständnis entgegen zu bringen für ihre Ängste, gespeist aus ihrer seelischen Kränkung. Es entsprang meiner psychotherapeutischen Routine, ausgerichtet auf ihre gegenwärtige Lebenslage. Ich verzichtete darauf, mit ihr mögliche geburtshilfliche Maßnahmen zu erörtern. Denn diese lagen ohnehin außerhalb meiner Kompetenz. Ich konzentrierte mich ganz auf den gegenwärtigen therapeutischen Raum, der äußerlich gebildet war durch das ungemütliche Geburtszimmer mit vielen chromblitzenden Geräten, natürlich ohne Gardinen: Hygienisch rein, kahl. Möglicherweise habe ich ihre Hand ein wenig gehalten – aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war: Ihr gegenwärtiges körperliches Empfinden mit all ihren Ängsten, Verkrampfungen, Kältegefühlen kam zur Sprache. Als ich mich verabschiedete, konnte ich ihr keineswegs ein Hoffnungswort hinterlassen. Bei den Hebammen warb ich um deren Verständnis für die Lage der Patientin – und wir sprachen lange darüber, wie man wohl zukünftig die Kreissaalräume wärmer gestalten könne – mit warmen Farben, mit Holz, mit Bildern.
Ich hatte mit einem Kaiserschnitt gerechnet. Überraschend erfuhr ich am Nachmittag: Der Geburtskanal hatte sich geöffnet, die Patientin konnte spontan entbinden.
Hier war ein Ereignis geschehen. Das Ereignis hatte mich überrascht. Zwar sind mir Ereignisse bekannt aus meiner beruflichen Arbeit. Aber sie lassen sich nicht herbeiwünschen oder gar herbeizwingen.
Inwiefern hatte ich hier meine Verantwortung wahrgenommen?

• Ich hatte erstens meine professionellen Regeln beachtet.
• Ich hatte zweitens einen Dialog sich entspinnen lassen.
• Ich hatte drittens dem Ereignis einen Raum gegeben.
Diese drei wichtigen Punkte werde ich jetzt genauer betrachten.

1. Jeder Beruf – Lehrer, Heilpädagoge, Arzt, künstlerischer Therapeut, Psychotherapeut usw. – hat seine professionellen Regeln herausgebildet. Diese Regeln lernen wir in unserer Ausbildung. Sie sind ein stützendes Korsett, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Regeln sind heute oft in Lehrbüchern geschrieben. Sie sind auch juristisch verbindlich – das heißt, bei schweren Regelverletzungen kann es zur juristischen Klage kommen.
Welche Regeln hatte ich im Falle von Maja wahrgenommen? Mit psychotherapeutischem Sachverstand hatte ich die soziale Lage und ihr seelisches Befinden realistisch, auch diagnostisch erfasst. Ich stellte einen warmen Kontakt bei angemessener Distanz her. Empathisch fühlte ich mich in ihre gegenwärtige Situation ein; ich reflektierte meine eigenen Gedanken und Gefühle (Gegenübertragung) und ich spürte die Szene, die die Patientin unbewusst inszenierte (Übertragung); ich beurteilte meine eigenen Möglichkeiten und Grenzen.
2. Der Dialog zwischen uns war ein Geschenk. Dialog heißt wörtlich, das Wort zwischen den Partnern. Dieses Zwischen lässt sich ermöglichen, aber es lässt sich nicht vorsätzlich machen. Der Dialog wird auch bestimmt von so genannter Zweckfreiheit. Auch wenn das Gespräch auf einen Zweck ausgerichtet ist, so sind sich die Dialogpartner darüber im Klaren, das der Zweck nicht durch Druck oder Kraft erreicht werden kann. Das Motto ist „Wirken ohne worum Willen“ (Meister Eckhard) – das heißt, bewirken, ohne nach dem Warum zu fragen.
Der Dialog zwischen der Patientin und mir wurde ermöglicht durch verschiedene Elemente: Meine unbedingte emotionale Präsenz, durch das tiefe Vertrauen von Maja zu mir, das auch die taktile Berührung, das Handhalten möglich machte, schließlich auch meine rasche Reflexion der emotionalen Lage: Ich zögerte einen kurzen Moment, ob ich den von Maja herüber gesandten Funken auffangen sollte und entschied mich dann voll bewusst dazu, auf diese Verbindung einzugehen.

Zwischenräume

Zwischen Ton und Ton
die Hoffnung, Mitschwingendes erzeuge Klang.

Zwischen den Zeilen,
manchmal auch zwischen uns,
die unendliche Strömung.

(Verena Rentsch)

3. Ich hatte dem Ereignis Raum gegeben. Mit unseren professionellen Werkzeugen müssen wir zwar alles tun, die genannten professionellen Bedingungen zu schaffen, so dass das Ereignis sich einstellen möge. Aber: Es stellt sich ein, von selbst. Es ist ein selbstgebender Akt, der Geber ist verborgen. Nicht wir können es herstellen. Es ist nicht herstellbar, so wie wir ein Haus bauen können nach detaillierten Konstruktionsplänen, die unserem Verstand entsprungen sind.
Auch therapeutisches Handeln orientiert sich an rational vorgegebenen Plänen, Regeln und Leitlinien von Therapie. Zugleich weiß ich aber: Die Wirksamkeit dieser Pläne ist relativ, sie sind lediglich ein Leitseil, um grobe Fehler zu vermeiden.
Mit meiner therapeutischen Haltung versuche ich mich einzuschwingen auf eine mittlere Einstellung. Diese mediale Einstellung von höchster Aufmerksamkeit liegt zwischen passivem Kommenlassen und aktivem Eingreifen. Diese mediale Einstellung gehorcht dem Motto „Nicht machen – das Dritte sich einstellen lassen“.
Es ist das Dritte zwischen Dir und Mir, zwischen Patientin und Therapeut, zwischen uns. Es ist das heilsam wirkende Ereignis. Um ein Ereignis Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es unserer Geduld – Geduld ist hier gekonnte Langsamkeit. Dazu gehört eine Sorgfalt, die konkretes Ahnen übt. Eine amerikanische Kunsttherapie-Kollegin hat dafür die Worte gefunden:

Those, who part the waters are holy
Those, who wait for the waters to part are divine.

(Mary Talmage)

Zu deutsch:
Wer die Wasser teilt, ist heilig.
Wer wartet, bis die Wasser sich teilen, ist göttlich.

Diese wartende Haltung hat ihre eigenen logischen Regeln – aber es ist eine Logik des Herzens, wie Pascal sagte. Das Herz als psychosomatisches Organ der Begegnung ist Wahrnehmungsorgan für das Ereignis. Das Herz als Mitte zwischen oben und unten, zwischen Kopf und Hand, zwischen kühlem Verstand und der emotionalen Hitze des Bauches und des Geschlechtes, zwischen Kontrolle und Handlung. Das Herz ist Vermittler, es ist nicht steuerndes Zentralorgan, so wie das Hirn neuerdings  modisch wieder im Mittelpunkt psychosomatischer Forschung steht.

Zukunft: Dem Ereignis seinen Raum geben.

Die kurze Therapiegeschichte Majas lehrt auch: Um dem Ereignis seinen Raum geben zu können, dazu bedarf es einer Denkstruktur, die dem Geschehen gerecht wird. Diese Denkstruktur ist den vorhin genannten therapeutischen Regeln übergeordnet. Denkstrukturen entsprechen einem anthropologischen Konzept. Es wäre eine schlimme Täuschung zu glauben, wir könnten auf konkretes, präzises Denken verzichten. Therapie entspringt einem klaren Denken, nicht allein dem tastenden Fühlen. Mehr denn je gilt heute: Der Mensch ist, was er denkt, dass er ist. Was heute gedacht wird, wird morgen in die soziale und kosmische Welt umgesetzt. Rose Ausländer fasst das in ihre Sprache:

Gib mir
den Blick
auf das Bild
unserer Zeit.

Gib mir Worte
es nachzubilden.
Worte
stark
wie der Atem
der Erde.

(Rose Ausländer)

Die Methode dieses Denkens ist zarter Empirie verpflichtet – nicht ausufernder Spekulation. So wie die Stimme der Vernunft leise ist,  um dem Zwischen-Raum einem Ereignis zur Verfügung zu stellen, mögen wir eine Fähigkeit auch in der Heilkunde neu kultivieren, welche die alten Ärzte und Therapeuten längst praktizierten. Heute spricht man leichthin von Intuition – nicht selten ohne diese Wort recht mit Inhalt zu füllen. Das deutsche Wort lautet: Ahnung. Wer schweigt und wartet und dabei nicht einschläft, sondern die wache Spannung der Frage aushält, dem wächst eine neue Fähigkeit zu. Er lernt das Ahnen, ohne das Begreifen zu vergessen. Ahnen und Schauen sind auf ein unsichtbares Ganzes gerichtet, das für den ausgerichteten Blick und für den zupackenden Begriff nicht existent ist. Die Wirklichkeit des Ahnens ist die Zukunft.
 
Verantwortung des Therapeuten: Absoluter Schutz des therapeutischen Schmerzraumes

Der therapeutische Raum bedarf des absoluten Schutzes. Die Schweigepflicht des Therapeuten gilt für alle ähnlichen Berufe, die mit Therapie zu tun haben. Die Verantwortung des Therapeuten ist eindeutig; er hat mit aller Aufmerksamkeit auf diesen Schutz und die Schweigepflicht zu achten. Diese Schweigepflicht gilt allerdings auch für den Patienten – es sei denn, er glaubt, der Therapeut habe eine Grenzverletzung begangen.
Die absolute Schweigepflicht kann in Supervisionen und Balintgruppen teilweise aufgehoben werden. Denn in Supervisionen müssen detaillierte Einzelheiten zur Sprache kommen, da sonst die Supervision unwirksam ist. Allerdings wird dabei der Name des Patienten nicht genannt.
Auch wenn die therapeutischen Abläufe völlig anonymisiert sind, besteht Schweigepflicht. Bevor ich das wusste, passierte mir folgender schwerer Fehler:
Aus einer laufenden Psychotherapie berichtete ich eine akute Episode in meiner Vorlesung (die ja insofern öffentlich ist, weil ein offener Raum besteht, auch wenn die Studenten unter Schweigepflicht stehen) – ich bringe deshalb gern akute Episoden in Vorlesungen, weil ich weiß: Etwas von der aktuellen Brisanz der Therapie kommt auch meist zu den Hörern hinüber. Aber was passierte: Kaum kam ich nach der Vorlesung in mein Büro zurück, so klingelte das Telefon – die betreffende Patientin rief mich völlig verwirrt an, so wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie war auch sonst nicht verwirrt. Sie sagte, sie wisse selbst nicht, was mit ihr los sei. Ich beruhigte sie. Es gelang. Ich aber ahnte ziemlich genau, warum sie verwirrt gewesen war – jedoch sagte ich ihr das selbstverständlich nicht, denn das hätte sie noch zusätzlich geschädigt.
Was war geschehen: Ich vermute: Es war emotionale Fernwirkung. Solche Fernwirkungen sind seit den parapsychologischen, synchronistischen Experimenten C. G. Jungs wohl bekannt. Synchronisation heißt hier Gleichzeitigkeit nichtkausaler Zusammenhänge, die an verschiedenen Orten stattfinden, ohne dass diese Ereignisse durch physische Mittel verbunden sind. Man kann sagen, die Kräfte, die im Unsichtbaren unseren Weg bestimmen.
Derartige Fernwirkungen habe ich niemals mehr beobachtet, wenn ich meine Patienten vorher gefragt habe, ob ich eine bestimme Episode zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einer bestimmten Gelegenheit erzählen dürfe. Wenn die Patienten einverstanden waren, passierte keine Fernwirkung. Eine bewusste Vereinbarung schützt offenbar ebenso wie der geschlossene Kreis einer Balintgruppe.
Ich möchte mit diesem Beispiel hinweisen auf den absoluten Schutz des therapeutischen Raumes. Joseph Beuys sprach bei einer Installation vom Schmerzraum mit dem Motto „Zeige deine Wunde“. Wenn der Patient seine Wunde zeigt, muss er sicher sein können, dass er und seine Wunde geschützt sind.

Grenzen setzen

Grenzen gehören essentiell zum therapeutischen Raum. Der Therapeut ist verantwortlich für die Grenzen:

• Er formuliert und erklärt die Grenzen (zeitlich, räumlich, in der zwischenmenschlichen Beziehung und im Wahrnehmen des Raumes). Dazu gehört z. B.: Strikte Beachtung der Uhrenzeit (auch wenn die Therapiestunde im Notfall überdehnt werden kann), Vereinbarung über den Ort der Therapie (im Therapiezimmer, im Klassenraum, auf dem Sportplatz usw.); die Methode (Regel) in der Therapie wird vereinbart (in meinen Psychotherapien z. B. sage ich: „Sie können und dürfen hier alles tun und sagen, aber ich werde Sie hindern an Zerstörungen und an Beleidigungen/Verletzungen meiner Person und Ihrer selbst).
• Er wacht darüber, dass die Grenzen eingehalten werden.
• Er schreitet notfalls mit Gewalt ein, wenn Grenzen verletzt werden.

In extremen Beispielen zeigt sich oft das Wesen der Sache. Ich nenne zwei solcher Beispiele.

Eine mit mir befreundete Kunsttherapeutin, Elisabeth Wellendorf in Hannover, – sie ist auch als Kindertherapeutin ausgebildet – arbeitete über längere Zeit mit einem Mädchen von etwa 4 Jahren Alter. Ich nenne das Mädchen Anna. Anna kam gern in die Therapiestunden. Sie malte mit Aquarellfarben, mit Farbstiften, sie formte mit Ton und baute Holzfiguren. Eine Tages begann sie mit den Farben die Möbel zu beschmieren und zerbrach die Malpinsel. Elisabeth ermahnte sie, diese Zerstörung zu beenden. „Höre damit auf“. Aber Anna hörte nicht auf diese Worte, sie setzte ihr Zerstörungswerk fort. Da packte Elisabeth beide Arme der kleinen Anna und hielt sie fest, sanft gedrückt an ihren eigenen Körper. Unter dieser Begrenzung konnte das Kind endlich eine wichtige, traumatische Begebenheit äußern – wie sie wehrlos von ihrem Vater geschlagen worden war und sich niemals gegen ihn äußern konnte.

Ein anderes Beispiel widerfuhr mir selbst. Über längere Zeit arbeitete ich mit einer etwa 25 Jahre jüngeren Frau, die wegen Partnerschaftsproblemen mit ihrem Mann zu mir kam. Eines Tages erschien diese attraktive und temperamentvolle Frau in ein schönes rotes Gewand gekleidet mit den Worten: „Ich möchte ein herrliches orgiastisches Fest mit Ihnen feiern!“ Dabei blitzte sie mich auffordernd an; sie war erotisch erregt. Mir verschlug es im ersten Moment die Sprache, da mir dies in meiner Praxis von mehreren Jahrzehnten noch nicht passiert war. Ich war mir selbst völlig sicher, dass ich mich auf diese Verführung nicht einlassen werde. Die Frage war nur: Wie verhalte ich mich. Wenn ich die Sitzung sofort beendet hätte, so wäre das eine Verletzung für die Patientin gewesen. Natürlich sagte ich ihr: „Ich werde auf Ihren Wunsch nicht eingehen: Wir sind kein Liebespaar. Wenn ich auf Ihren Wunsch einginge, wäre das das Ende unserer Therapie, weil sich Psychotherapie und erotische Beziehung ausschließen!“
Zwar verstand sie meine Worte und hielt sich auf Abstand – aber sie tat mir leid, weil ihre Erregung offensichtlich anhielt. Um sich vielleicht zu entspannen, schlug ich ihr vor, sich auf die Couch zu legen. Bäuchlings lag sie dort und erlebte offenbar einen körperlichen Orgasmus. Ich hätte an dieser Stelle den Raum verlassen können, da es ein intimer Vorgang war. Jedoch hätte sie das ebenfalls verletzt. Da ich kein Voyeur sein wollte, rückte ich meinen Stuhl ein wenig näher und legte behutsam eine Hand auf ihr Schulterblatt, ohne zu streicheln. Ich hinderte sie aber, mein Knie zu berühren – „das überspannt den Bogen des Erträglichen“ sagte ich ihr zur Begründung. Schließlich beruhigte sie sich. Wir konnten die Sitzung beenden. Sie fühlte sich nicht beschämt,  und sie fühlte sich von mir respektvoll begleitet.
Ich selbst war nach dieser Sitzung völlig erschöpft: Ich hatte die Spannung auszugleichen zwischen therapeutischer Distanz, Abgrenzung gegen heftige sexuelle Verführung durch eine attraktive, kraftvolle Frau, meinen eigenen Gefühlen von ärgerlichem, gewalttätigem Überrumpelt sein und meinen eigenen Begehrungen (Gegenübertragung) – und ich hatte dabei eine freundliche, respektvolle Zuwendung als Therapeut zu realisieren.
Später konnte sie darüber sprechen – sie war dankbar für meine vorsichtige Grenzsetzung. Offenbar hatte sie ihrem Mann etwas angedeutet – jedenfalls kamen beide später, um mir zu danken. Die Spannung zwischen Ihnen hatte sich gemildert.

Bei diesen beiden Beispielen war es notwendig, eindeutige Grenzen zu setzen gegenüber gewalttätigem Einbruch und Verletzung des therapeutischen Raumes.

An diesem letzten Beispiel wird auch deutlich. Die Verantwortung des Therapeuten wahrzunehmen ist bewusster Verzicht. Bewusster Verzicht auf eigene Wünsche und Bedürfnisse, Verzicht auf halbbewusste, rasche, heftige Reaktionen (denn Antwort ist bewusstes, reflektiertes Handeln angesichts aller Spontaneität), bewusster Verzicht auf ureigene Gedanken und weltanschauliche Konzepte, und mögen sie objektiv noch so richtig und wichtig sein, bewusster Verzicht auf Lieblingsideen. Der Therapeut ist mit seiner Antwort und seinem Wort ganz auf die Gegenwart seines Patienten ausgerichtet. Dabei muss der Therapeut seine eigenen Gefühle, Triebe, Bedürfnisse, seine Konzepte und Weltanschauung, seine eigene Vergangenheit kennen – aber er darf sie nicht in der Therapie ausleben – es sei denn, es passt in die Situation.
„Vergebens werden ungebundene Geister nach der Vollendung reiner Höhe streben, in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, nur das Gesetz kann uns die Freiheit geben“ (Goethe).

Bewusster Verzicht passt nicht in unser gegenwärtiges Zeitalter. Wir leben im Zeitalter des Überflusses von Waren und verführerischen Angeboten, scheinbarer Grenzenlosigkeit, der Beliebigkeit menschlicher Beziehungen. Ich erinnere an ein Wort von Jaan Kross, dem großen estnischen Schriftsteller (gestorben 27.12.2007) über die Transformation der baltischen Staaten 1991: „Wir kamen aus dem Gefängnis und betraten ein Warenhaus!“  Wer sich diesem Zeitgeist des Warenhauses nicht ausliefert, wird als reaktionärer Traditionalist denunziert. Jedoch kommt es für uns Therapeuten darauf an, uns zu vergegenwärtigen: Nicht weil wir nach rückwärts schauen,  nehmen wir unsere Verantwortung als Grenzen setzende Therapeuten wahr; vielmehr wissen wir um den Ursprung unserer therapeutischen Werte. Wir schwimmen nicht im Mainstream mit: Denn nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, lebendige schwimmen gegen den Strom, um zu den Quellen zu kommen.
Bevor ich das Gedicht „Ein einziges Wort“ nochmals vorlese, möchte ich abschließend dazu bemerken: Mit Wort ist natürlich jede Form von therapeutischem Medium gemeint; neben dem Wort die Musik, die Farbe, die Plastik, die Bewegungsgeste, die Sprachgestaltung, das Schauspiel und anderes. Meine Verantwortung als Therapeut kann nur zur Geltung kommen, wenn die Grenzen des therapeutischen Raumes gewahrt bleiben. Dann kann ein Wort des Therapeuten mitfühlen (Empathie ausdrücken), dann kann sein Wort Freude entfachen, dann kann das Wort eine Fessel lösen, das Wort kann ermutigen. Und wenn es spontan aus dem Herzen kommt, so ist es ein menschliches Wort. Ich schließe nun mit dem Gedicht „Ein einziges Wort“ von Aspazija:

Ein einziges Wort
 Ein einziges Wort
kann wie fruchtbarer Regen niederfließen
auf die welkende Seele,
ein mitfühlendes Wort.

 Ein einziges Wort
kann wie ein Regenbogen sich spannen über den Weg
und leuchten über dem Staub,
ein einziges, erfreuendes Wort.

 Ein einziges Wort
vom höchsten Bergesgipfel her
kann niedersteigen zu der Seele,
ein erlösendes Wort.

 Ein einziges Wort
ist wie eine Treppe mit goldenem Halt
für unsichere Steiger,
ein ermutigendes Wort.

 Ein einziges Wort
kann dem Tage den Feierabend bringen,
kann jenen aufrichten, der fällt,
ein menschliches Wort.
 

Veranstaltungshinweis:

Prof. Peter Petersen hält am 14.11.09 in München bei der Fachtagung:
"Wenn das Leben mit dem Tod" beginnt einen Vortrag zu dem
Thema: Trauer nach Schwangerschaftsabbruch – unser Bewusstsein vom Tod
im Leben – meine Erfahrungen als Psychotherapeut. 

Ebenfalls einen Workshop zu dem Thema: Seelische Veränderungen beim Schwangerschaftsabbruch.

 

Nach oben scrollen