Die Übung der Achtsamkeit

Von Evamaria v. Schneidemesser
Nach einem Vortrag gehalten auf dem Yogakongress in Willingen im Mai 1972

Die meisten Menschen sind sich heute mehr oder weniger dessen bewusst, dass wir in einer chaotischen Zeit des Umbruchs leben, in der die alten Wertvorstellungen nicht mehr existieren, neue Ordnungen sich aber noch nicht gefunden haben.
Wir ahnen es, dass ein neuer Mensch geboren werden sollte, ein Mensch mit einem erweiterten Bewusstsein, und wir suchen nach Möglichkeiten, zu dieser Bewusstseinserweiterung zu gelangen. Wir greifen zu Drogen, üben Yoga und Zen, meditieren, befassen uns mit Psychoanalyse, erforschen die außersinnlichen Kräfte usw.

In all dieser unruhigen Suche nach Wegen, auf denen wir zu uns selbst finden können, wodurch dann auch eine neue Ordnung des Zusammenlebens entstehen könnte, ist es gut zu wissen, dass es einen uralten Weg gibt, der zu der so ersehnten und notwendigen größeren Bewusstheit führt.

Vor 2500 Jahren hat der historische Buddha Gautama die „Übung der Achtsamkeit“ in seinen Lehren beschrieben und seine Anhänger immer wieder darauf hingewiesen, dass die Übung der Achtsamkeit der einzige Weg ist, der zur Aufhebung von Leiden und damit zu Glück und Frieden führt.
Das Wort „Achtsamkeit“ ist im Deutschen ungebräuchlich und mag beim ersten Hören wenig anschaulich wirken. Wenn wir uns aber klar machen, was Unachtsamkeit ist, können wir eine Vorstellung davon gewinnen, was Achtsamkeit bedeutet. Alle anderen Übersetzungen des Pali-Wortes „Satipatthana“ wie Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Klarheit, Wachheit bezeichnen den eigentlichen Sinn dieses Wortes nicht so gut wie gerade Achtsamkeit.

Um  die Achtsamkeit im täglichen Leben üben zu können, nennt uns der Buddha vier Objekte oder Grundlagen dieser Übung:
1. den Körper
2. das Gefühl
3. den Zustand des Geistes (oder des Gemütes)
4. die Gedanken (die Inhalte des Bewusstseins)
Es handelt sich bei diesen vier Objekten der Achtsamkeit nicht nur um uns selbst, um unseren eigenen Körper, unser eigenes Gefühl, unseren eigenen Gemütszustand und unsere eigenen Gedanken, sondern ebenfalls um die Achtsamkeit auf den Körper, das Gefühl, den Geisteszustand und die Gedanken anderer, soweit wir sie erkennen können.
Bei der Achtsamkeit auf den Körper soll man sich darum bemühen, sich des Körpers bewusst zu sein, seine Bewegungen, Haltungen, Tätigkeiten und alle Sinneseindrücke registrieren. Der Körper ist nach den Worten des Buddha das Hauptobjekt für die Übung der Achtsamkeit. Wir üben die Achtsamkeit auf den Körper immer dann, wenn wir „mit dem Geist im Körper“ sind, z.B. beim Meditieren, beim Üben des Hatha-Yoga, beim Bewusstmachen der Atmung, beim Autogenen Training.
Bei der Achtsamkeit auf das Gefühl wird nach der Anweisung des Buddha unterschieden zwischen angenehmen und unangenehmen Gefühlen oder mit anderen Worten zwischen Lust- und Unlustgefühlen, die wir uns bewusst machen sollen.
Um die Achtsamkeit auf den Geistes-, oder Gemütszustand zu lenken, ist es eine gute Hilfe, sich an Gegensatzpaaren zu orientieren. Der Buddha gibt uns den Rat, festzustellen, ob unser Geist z.B. gesammelt ist oder zerstreut, ruhig oder unruhig, hasserfüllt oder hasslos, illusionslos oder mit Illusionen behaftet usw.
Bei der 4. Übung, unsere Gedanken achtsam zu beobachten und zu registrieren, werden wir gewahr, dass wir keinesfalls nur denken, was wir wollen und was gerade erforderlich ist. Bei mechanischer Arbeit lassen wir fast immer unsere Gedanken umherschweifen. Wenn wir ein persönliches Problem haben, grübeln wir ständig darüber nach, wir drehen uns mit unseren Gedanken ohne Aufhören im Kreise. Ja oft ist es so, dass die Gedanken in uns herumtoben wie eine wild gewordene Herde von Affen. Nicht wir haben die Gedanken, sondern die Gedanken haben uns. Ein unwürdiger Zustand!
In diesen vier Objekten der Achtsamkeit ist, wie der Buddha sagt, die ganze Welt enthalten.
Für uns heutigen Menschen genügt es aber nicht mehr, wenn wir uns klarmachen, worauf wir die Achtsamkeit richten sollten. Wir müssen wissen, in welcher Art und Weise wir das überhaupt anfangen können. Dazu werden uns Hinweise gegeben in späteren Kommentaren und Lehrreden des Buddha und auch durch die Erfahrung aus neuerer Zeit.
Wir sollten die Übung der Achtsamkeit beginnen mit dem sog. „Reinen Beobachten“. Wie verhalten wir uns eigentlich, wenn wir beobachten? Ist es nicht so, dass wir bei jedem Sinneseindruck sofort werten, urteilen, klassifizieren, also reagieren? Sehen wir dann überhaupt die Dinge so, wie sie sind? Durch unsere sofortige Stellungnahme verfälschen wir sie, nehmen nicht das wahr, was ist, sondern sind gefangen und unfrei durch unsere Vorurteile. Wir sollten versuchen, uns rein aufnehmend zu verhalten, nicht sofort zu bewerten mit unserem Gefühl oder Denken, sondern abzuwarten. Und wenn wir immer feststellen müssen, dass uns das nicht gelingt, sollten wir wenigstens unsere Reaktionen beim Beobachten registrieren.
Zweitens ist es für die Art und Weise unserer Übung wichtig, dass wir versuchen, unpersönlich zu sein. Als Beispiel: Wenn wir unsere Gemütsverfassung beobachten, sollten wir nicht feststellen „ich bin zornig“ oder „ich bin guter Laune“ sondern lediglich „da ist Zorn“ oder „da ist gute Laune“. Wenn wir die Atmung beobachten, nicht registrieren „ich atme“ sondern „es atmet“, wenn wir gehen nicht „ich gehe“, sondern einfach „gehen“. Auf diese Weise bekommen wir Abstand von uns selbst und die Egozentrik baut sich ab. Wir werden dann aufhören, uns selbst zu verurteilen und damit fällt auch das Verurteilen unserer Mitmenschen weg.
Die Übung der Achtsamkeit ist nicht schwer zu verstehen und ihre Notwendigkeit leicht einzusehen. Wer aber ernsthaft mit dem Üben beginnt, wird entdecken, wie schwer es ist, achtsam zu sein. Wir brauchen jedoch deswegen nicht zu verzagen und die Übung vielleicht sogar aufzugeben. Es wird nicht mehr von uns verlangt, als wir tun können. Wenn wir feststellen, dass es uns unmöglich ist, den ganzen Tag achtsam zu sein, genügt es, wenn wir ab und zu innehalten und offen und still sind. Achten auf die Unachtsamkeit ist manchmal das Einzige, was wir tun können.
Wenn wir ohne Ehrgeiz und ohne ein Ziel erreichen zu wollen, uns darum bemühen, so gut es geht, achtsam zu sein, werden wir vielleicht eines Tages bemerken, dass wir einiges an Selbsterkenntnis gewonnen haben, und dass es in unserem Inneren stiller geworden ist. Das ist schon viel.
 

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